Grautiers Dilemma

Das Teaserbild zeigt eine ziemlich typische Beladung eines LKWs in Marokko, wobei bei diesem hier die Anordnung der Ladung noch etwas Optimierung braucht. Aber den Hauptteil aller Transporte gewährleistet ein grauer Vierbeiner. Er ist Rückgrat der Gesellschaft in vielen Ländern Nordafrikas und der arabischen Halbinsel. Die Medina von Fès wird beispielsweise noch heute von ihm ver- und entsorgt.

[dropcap]D[/dropcap]ie größten Bauwerke wären ohne seine Hilfe nicht errichtet worden, und die anstrengendsten Expeditionen hätten ohne ihn nie stattgefunden.

Der Esel ist das sprichwörtliche Arbeitstier, das manchmal sogar unter seiner Last zusammenbricht – es sind grausame Bilder, die sich dem Herzen einprägen.

Er ist genügsam und anspruchslos, lässt sich ohne Gegenwehr prügeln und schlagen. Seit etwa 6000 Jahren wird der Esel als Haustier gehalten, somit zwar kürzer als Schaf, Schwein oder Rind, aber länger als Pferd oder Kamel.

In der Antike weist man dem Tier positive Eigenschaften zu: Stärke und eine große Potenz.

In der Bibel ist er eindeutig positiv belegt. Zwar wird er in der Weihnachtsgeschichte gar nicht erwähnt, aber in den Evangelien kommt Jesus auf einer sanftmütigen, friedlichen Eselin nach Jerusalem.

Auch im Koran ist er nicht wegzudenken, Beispiel für Demut, Duldsamkeit und Zähigkeit.

Was in Bibel und Koran noch als positiv gilt, hat dem Esel später nicht mehr gut getan. In der Physiognomie, mit deren Hilfe man vom Äußeren auf das Innere schließen wollte, schauten Esel bis weit ins 19. Jahrhundert langgesichtig und langohrig immer blöde drein. Die Silhouette eines Esels wurde beherrscht von seinen großen, langen Ohren, die er ganz offensichtlich getrennt voneinander bewegen kann. Wehe dem Menschen, der diesem Tier glich. Friedrich Nietzsche legte deshalb besonderen Wert auf seine kleinen Ohren und legte dem Tier diese Langohrigkeit zum großen Nachteil aus.

Im Volksmund ist der Esel dreierlei: stur, faul und dumm. Dabei ist er doch nur so, wie er ist, und befasst man sich mit ihm, ist vieles nachvollziehbar. Die Schönheit liegt eh im Auge des Betrachters und ist der Mode unterworfen. Die sprichwörtliche Duldsamkeit des Grautiers ist nicht Dummheit, das vorgeblich Störrische ist Vorsicht und Klugheit: Ein in Panik weglaufender Esel würde sich in dem Landschaftstyp, aus dem er stammt, im steinigen Geröll die Knochen brechen – Esel sind situationsintelligent, sagt heute die Wissenschaft.

Das Gleichnis von dem Esel, der verhungert, weil er sich nicht zwischen zwei Heuhaufen entscheiden kann, ist eher ein Beispiel menschlicher Schwächen als mangelnder Eselsvernunft. Wenn es darum geht, wo man Futter findet oder wie man sich das Leben etwas einfacher macht, ist der Esel dem Pferd überlegen.

Bei den Bremer Stadtmusikanten spielt er denn auch die tragende Rolle, in Shakespeares „Sommernachtstraum“ hat er einen Auftritt, Wilhelm Busch widmet ihm schelmische Verse:

Es stand vor eines Hauses Tor
Ein Esel mit gespitztem Ohr,
Der käute sich sein Bündel Heu
Gedankenvoll und still entzwei

Cervantes setzte seinen „Don Quijote“ auf einen Klepper namens Rosinante während sein listiger Begleiter Sancho Panso lieber auf einem Eselsrücken ritt, Jimenez schrieb die Eselselegie „Platero und ich“ und auf Elba spielt ein weiteres Eselsabenteuer, die Geschichte von Tino und seinem „Eselchen Grisella“.

Eine solch umfassende literarische Karriere sollte reichen, um die Beliebtheit des Tieres langfristig zu sichern – tut es aber nicht. In Großbritannien waren Esel eine Zeit lang in, dank des Animationsmärchens um den grünen Oger „Shrek“ und seinem grauen Begleiter, den ebenso schnell sprechenden wie schlecht singenden Esel. Da Esel billig waren, standen plötzlich viele Langohren neben dem Weihnachtsbaum. Doch genau wie bei Hund und Katze währte auch hier die Begeisterung nicht lange. Eselsasyle in Schottland, Irland und England sind deshalb schon lange hoffnungslos überfüllt. Als Kuscheltier taugt das Grautier nicht.

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