[dropcap]F[/dropcap]ragt man Bewohner Marrakeschs nach dem beliebtesten Flecken der Stadt, so werden sie stets antworten: Djemaa el-Fna. Das ist in etwa so originell, als würden wir die Frauenkirche nennen. Ein Geheimtipp ist der große Platz am Rande der Altstadt bestimmt nicht – er ist das genaue Gegenteil davon: Gaukler gaukeln, Trommler trommeln und Tänzer tanzen. Affen müssen turnen und Kobras erheben sich. Djemaa el-Fna ist seit Jahrhunderten Markt, Arena und Restaurant unter freiem Himmel und seit Jahrzehnten von Touristen belagert. Jeder Besucher, der im Labyrinth der Medina glaubt sich verloren zu haben, wird hierher zurückgeführt.
Wer in Marrakesch auf der Terrasse eines Cafés Tee trinkt, sieht den Orient von seiner heitersten Seite.
Auch das scheint direkt einem Reiseprospekt entnommen und doch ist es für uns beim siebten Mal schon ein Ritual: Ankunft in Marrakesch, Einchecken im Riad, durch die Souks schlendern und irgendwann sind wir auf einer der Dachterrassen rund um den Djemaa el-Fna. Wir gehen traditionell auf den „Le grand balcon du café glacier“, dort waren wir 2009 schon. Hier können wir uns Marokko erneut behutsam nähern. Mohammed – bestimmt heißt der Kellner so – bringt „thé à la menthe“ und wir blicken auf den Platz als würden wir uns in ein Buch vertiefen:
[dropcap]D[/dropcap]a liegt er, der berühmteste Platz der Stadt, des Landes und vielleicht sogar des ganzen Kontinents. Schon lang gehört der Platz zur deutschen Literatur, ganze Bücher wurden nach ihm benannt. Wahrscheinlich jeder unterzieht sich dem Versuch, den Namen des Platzes richtig zu deuten. Djemaa el-Fna ist mehr als „La Place“, er ist die Welt im Glas, die Welt in einer Nussschale. Fna, hocharabisch Fana, bedeutet Auslöschung, Vernichtung oder auch Nichts. Al-Fna sei das, was niemals enden kann, wissen die Geschichtenerzähler zu berichten und fragen, was dies sein könne:
Der Tod, das Paradies, der Kreis oder Gott? Die gängige Übersetzung als „Platz der Gehenkten“ bezieht sich auf den Umstand, dass hier einst die Köpfe der Hingerichteten ausgestellt wurden.
Der Djemaa el-Fna, so sagt man, sei die Lunge der Stadt. Bis zum frühen Nachmittag atmet der Platz noch nicht, er röchelt nur. Noch ist keine Garküche in Sicht, die kommen erst mit der Dämmerung. Jetzt knattern Mofas übers Gelände, Taxis sind unterwegs. An einigen Ständen werden Datteln und Orangensaft verkauft. Jeden Nachmittag beginnt es von Neuem: Ein Handkarren und ein paar Eimer sind die ersten Vorboten dessen, was in wenigen Stunden zu einem Labyrinth aus Garküchen herangewachsen sein wird. Im Minutentakt verändert sich der Platz. Das Besondere des Djemaa el-Fna bei Tageslicht, seine Weite, erschließt sich erst, wenn man die wuseligen Wege der Menschen und Fahrzeuge in den Souks erlebt hat.
[dropcap]G[/dropcap]enau gegenüber unseres Aussichtsplatzes befindet sich das Café Argana. Im Mai 2011 starrten wohl viele Besucher wie gelähmt herüber und sahen Marokkaner die Leichen von der Terrasse des Cafés forttragen – zerrissene, verbrannte Körper, gewickelt in Silberfolie. Eine Bombe hatte das Café zerstört und mit ihm eine Illusion. Sechzehn Menschen hatten ihr Leben verloren, 25 wurden schwer verletzt. Auf dem Platz der Gehenkten wog die Symbolik schwer, noch Anfang des vergangenen Jahrhunderts wurden die Köpfe der Hingerichteten hier zur Schau gestellt. In Marrakesch hatte niemand auch nur an Terror gedacht. Marrakesch war immer anders, eine Stadt der Unbekümmertheit. Hierher fährt man nicht, um mit einem backsteinschweren Reiseführer kulturhistorische Tiefenerfahrungen zu machen. Abgesehen von der Medina und der Koranschule gibt es kulturell auch nicht so viel zu sehen. Nach Marrakesch fährt man um in den Orient einzutauchen. Denn Marrakesch ist der ideale Ort, um ein bisschen Orient zu erleben und gleichzeitig auf nichts verzichten zu müssen, nicht auf Wein und nicht auf frische Brötchen.
Die Stadt war nie ein heiliger Ort. Schon 1923 schenkte der König von Marokko das ehrwürdige Hotel La Mamounia seinen Söhnen als Stätte des Vergnügens und der Entspannung. Künstler aus dem Westen kamen, Filme wie Hitchcocks „Der Mann, der zuviel wußte“ und Bücher wie „Die Stimmen von Marrakesch“ trugen den Ruf der Stadt weiter und zogen immer mehr glamouröse Gestalten an. Die Stadt wurde zum größten Catwalk Afrikas. Prominente wie der Modeschöpfer Yves Saint Laurent hatten sich hier ein Riad gekauft und damit sich auch alle anderen ein bisschen wie zu Hause fühlen konnten, bauten die üblichen Hotelkonzerne ihre Hotels. Es sind solche Orte, die Terroristen anziehen: Weil illustre Gäste Aufmerksamkeit bringen und weil »Verwestlichung« als Sünde gilt. Und vielleicht auch, weil sie hoffen, sie können sich auf einer solchen Bühne als Rächer inszenieren. Trotzdem blieb Marrakesch einfach Marrakesch, auch nach dem Anschlag, auch nach der weltweiten Pandemie. Offensichtlich lässt sich ein Jahrhundert der Weltoffenheit weder einfach wegsprengen noch ist es nach zwei Jahren der Pandemie und des Lockdowns vergessen.
Aber einer fehlt doch: Solange wie wir hierher kamen, über Jahre – er war schon da, immer unterm Sonnenschirm, manchmal gemustert, ein anderes Mal unicolor. Er verkaufte künstliche Gebisse und bei Bedarf auch Weißsagungen aus denselben. Heute finden wir ihn nicht – vielleicht ein Opfer der Lockdowns oder des Virus selbst.